John Stuart Mill (1871)
„Über den stationären Zustand“
§ 1: Die vorhergehenden Kapitel enthalten die allgemeine Theorie von dem wirtschaftlichen Fortschritt der Gesellschaft in dem Sinne, in dem diese Bezeichnungen gewöhnlich verstanden werden, des Fortschritts des Kapitals, der Bevölkerung und der produktiven Fertigkeiten. Wenn man aber irgendeinen Fortschritt, der seiner Natur nach nicht unbeschränkt ist, betrachtet, fühlt man sich nicht davon befriedigt, dass man nur die Gesetze der Bewegung aufzeichnet; man muss sich auch die weitere Frage stellen: Wozu führt dies alles? Welchem Endpunkt strebt die Gesellschaft mit ihren Fortschritten im gewerblichen Leben zu? Was müssen wir erwarten, wenn einmal der Fortschritt aufhört – in welcher Lage wird sich dann die Menschheit befinden?
Die Nationalökonomen müssen es fast immer mehr oder weniger deutlich eingesehen haben, dass die Zunahme des Vermögens nicht grenzenlos ist, dass am Ende des sogenannten Fortschrittzustandes der stationäre Zustand liegt, dass jeder Fortschritt im Vermögen nur ein Hinausschieben dieses Zustandes ist und jeder Schritt nach vorn eine Annäherung an ihn bedeutet. Wir vermögen nunmehr zu erkennen, dass dieses letzte Ziel zu allen Zeiten nahe genug deutlich vor unseren Augen liegt, dass wir stets an der Grenze stehen und dass, wenn wir sie nicht schon längst erreicht haben, dieses daher kommt, dass das Ziel selber vor uns flieht. Die reichsten und blühendsten Länder würden sehr bald den Ruhestand erreicht haben, wenn nicht in den Fertigkeiten und in der Produktion weitere Fortschritte gemacht würden und wenn das Kapital von diesen Ländern nicht unaufhörlich in unkultivierte oder schlecht kultivierte Teile der Erde abflösse.
Diese Unmöglichkeit, letzten Endes dem Ruhezustand aus dem Wege zu gehen, diese unwiderstehliche Notwendigkeit, wonach der Strom des menschlichen Erwerbslebens schließlich in einen anscheinend stillstehenden See einmünden muss – muss für die Nationalökonomen der beiden letzten Generationen eine unerfreuliche und entmutigende Aussicht gewesen sein, weil der Grundton und die Richtung ihrer Betrachtungen darauf hinausgehen, vollständig alles wirtschaftlich Wünschenswerte in dem Zustand des Fortschritts und in diesem allein enthalten zu sehen.
Noch nach Mac Culloch beispielsweise ist Wohlstand nicht eine große Gütererzeugung und eine gute Vermögensverteilung, sondern deren sehr schnelle Zunahme. Nach ihm gelten als Zeugnis von Wohlstand hohe Gewinne; da jedoch die Richtung gerade dieser Vermögenszunahme, die er Wohlstand nennt, dahingeht, den Kapitalgewinn zu verringern, muss nach ihm auch wirtschaftlicher Fortschritt schließlich zu einer Ausrottung des Wohlstandes führen.
Adam Smith nimmt überall an, dass die Lage der großen Volksmengen in einem Ruhezustande des Vermögens, wenn auch nicht ausgesprochen ärmlich, so doch gedrückt und bedrängt sein müsse und nur in einem Zustand des Fortschritts zufrieden stellend sein könnte. Die Lehre, dass, wie weit auch eine unablässig kämpfende Zeit unser Schicksal hinausschieben kann, der Fortschritt der Gesellschaft doch schließlich „auf Sandbänken und im Elend enden“ muss, ist durchaus nicht, wie viele heute noch glauben, eine unheilvolle Erfindung von Malthus, sondern sie war ausdrücklich oder stillschweigend von seinen hervorragendsten Vorgängern ausgesprochen und kann nur mit seinen eigenen Grundsätzen erfolgreich bekämpft werden. Bevor die Aufmerksamkeit auf das Bevölkerungsgesetz als die treibende Kraft bei der Bestimmung des Arbeitslohnes gerichtet war, wurde die Zunahme der Bevölkerungszahl durchaus als eine beständige Größe behandelt; für alle Fälle war angenommen, dass in natürlichen und normalen Verhältnissen die Bevölkerung ständig zunehmen müsse, woraus man dann folgerte, dass eine fortwährende Zunahme der Unterhaltsmittel für das physische Gedeihen der großen Masse der Menschheit wesentlich sei. Erst seit der Veröffentlichung von Malthus‘ „Versuch“ datieren richtigere Anschauungen hierüber, und trotz der übrigens durchaus zugegebenen Irrtümer der ersten Auflage haben wenige Schriftsteller mehr als er selbst in seinem späteren Auflagen gerechtere und hoffnungsreichere Erwartungen gefördert.
Selbst in Zeiten, in denen das Kapital zunimmt, ist in alten Ländern eine auf Pflichtgefühl oder Klugheit beruhende Beschränkung der Bevölkerungszunahme notwendig, um zu verhindern, dass die Zunahme der Volkszahl die Kapitalszunahme überhole und dass die Lage der Klassen, die sich in den untersten Schichten der Gesellschaft befinden, verschlechtert werde. Wo nicht bei dem ganzen Volk oder einem großen Teile desselben ein entschlossener Widerstand gegen diese Verschlechterung besteht – ein fester Entschluss, einen einmal eingebürgerten Stand der Lebenshaltung sich festzuhalten – , da sinkt sogar in einem Zustande des Fortschritts die Lage der ärmsten Klassen immer tiefer, bis zu dem niedrigsten Punkt, den sie noch zu ertragen gewillt sind. Der gleiche Entschluss könnte ebenso gut dahin wirken, ihre Lage auch bei einem Ruhezustand auf einer bestimmten Höhe zu erhalten, und man kann auch annehmen, dass der Entschluss wirklich besteht. Freilich gehören selbst jetzt die Länder, in denen sich die größte Vorsorge bezüglich der Bevölkerungszunahme zeigt, oft zu denen, in denen das Kapital am wenigsten schnell zunimmt. Wo eine unbegrenzte Aussicht vorhanden ist, eine zunehmende Bevölkerungszahl beschäftigen zu können, erscheint eine vorsorgliche Einschränkung weniger notwendig. Wenn dagegen offensichtlich neue Hände Beschäftigung nur durch die Verdrängung oder durch die Ablösung bereits beschäftigter Hände finden könnten, könnte man sich auf den vereinigten Einfluss der Klugheit und der öffentlichen Meinung in gewissem Maße verlassen, dass er die kommende Generation auf die Zahl beschränkte, die notwendig ist, die gegenwärtige zu ersetzen.
§ 2: Ich kann daher einen stationären Zustand des Kapitals und Vermögens nicht mit der ausgesprochenen Abneigung betrachten, die die Nationalökonomen der alten Schule ihm allgemein entgegengebracht haben. Ich möchte vielmehr glauben, dass er, im Ganzen betrachtet, eine beträchtliche Verbesserung im Vergleich mit unserer gegenwärtigen Lage bedeuten würde. Ich gestehe, dass mich nicht das Lebensideal der Leute bezaubert, die glauben, dass der Normalzustand menschlicher Wesen in dem fortwährenden Kampfe gegeneinander besteht, dass das Stoßen, Drängen, einander auf die Fersen Treten, das heute das Kennzeichen unserer gesellschaftlichen Zustände ist, das wünschenswerteste Los der Menschen oder etwas anderes sei, als die unerfreulichen äußeren Merkmale eines einzelnen Abschnittes des gewerblichen Fortschrittes. Es mag dies eine notwendige Stufe für den Fortschritt der Zivilisation sein. Und diejenigen europäischen Staaten, die bisher so glücklich waren, vor ihm bewahrt geblieben zu sein, mögen sie vielleicht noch durchzumachen haben. Es ist ein Anzeichen des Wachstums, nicht aber ein Zeichen für den Niedergang; höhere Ziele und ausgezeichnete Tüchtigkeit werden dadurch nicht notwendig vernichtet. Wie Amerika in seinem großen Bürgerkrieg es der Welt bewiesen hat, sowohl durch das Verhalten des Volkes allgemein wie auch durch zahlreiche glänzende Einzelbeispiele, und wie England hoffentlich in einer seine Verhältnisse in gleicher Weise aufrüttelnden Lage ebenso beweisen würde. Diese Stufe bedeutet jedoch keine soziale Vollkommenheit, an deren Verwirklichung künftige Menschenfreunde eifrig mitzuarbeiten ein Bedürfnis fühlen würden. Gleichwohl ist es durchaus angemessen, dass, so lange Reichtum noch Macht ist und es das Ziel allgemeinen Ehrgeizes ist, so reich wie möglich zu werden, den Weg zur Befriedigung dieses Ehrgeizes allen ohne Begünstigung oder Parteilichkeit offen stehen soll. Aber der beste Zustand für die menschliche Natur ist doch der, dass keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht und niemand Grund zu der Furcht hat, dass er durch die Anstrengungen anderer, die sich selber vorwärts drängen, zurückgestoßen werde.
Dass die Tatkraft der Menschheit durch den Kampf um Reichtum erhalten wird, wie sie vorher durch den Kampf im Kriege erhalten worden war, bis es den Besseren gelungen war, die anderen zu Besseren zu erziehen, ist zweifellos wünschenswerter, als dass sie einrosten und stillstehen sollte. So lange der Charakter noch nicht verfeinert ist, erfordert er auch rohe Anreizmittel und muss solche haben. Inzwischen mögen jedoch auch die, welche die gegenwärtige, sehr frühe Stufe menschlichen Fortschritts nicht für die letzten ansehen, entschuldigt werden, dass sie verhältnismäßig gleichgültig gegen einen wirtschaftlichen Fortschritt sind, der die gewöhnlichen Politiker zu Glückwünschen veranlasst, nämlich einen solchen der bloßen Zunahme der Produktion und Kapitalansammlung. Für die Sicherheit und Unabhängigkeit ist es wesentlich, dass hierein ein Land nicht hinter seinen Nachbarn zurückbleibt. Aber an und für sich hat dies nur wenig Bedeutung, so lange die Zunahme der Bevölkerung oder etwas anderes die großen Massen daran hindert, irgendeinen Teil dieser Wohltaten für sich zu nehmen. Ich weiß nicht, weshalb man sich dazu beglückwünschen soll, dass Menschen, die bereits reicher sind als irgendeiner nötig hat, ihre Mittel verdoppeln, um etwas zu verbrauchen, was außer als Schaustellung ihres Reichtums nur wenig oder gar keine Freuden verschafft oder dass einzelne Personen in jedem Jahre aus dem Mittelstande zu den reicheren Klassen oder von den Erwerbstätigen zu den Unbeschäftigten übergehen. Nur in zurückgebliebenen Ländern hat die Zunahme der Produktion noch große Bedeutung; in den fortgeschrittenen Ländern ist das wirtschaftlich Notwendige eine bessere Verteilung und ein unentbehrliches Mittel hierzu ist eine straffe Einschränkung der Bevölkerungszunahme. Einrichtungen, die alles gleich machen, können, gerecht oder ungerecht, allein dies nicht durchführen; sie mögen die Gipfelpunkte der Gesellschaft erniedrigen, aber sie können aus eigenem nicht die unseren Schichten der Gesellschaft dauerhaft höher heben.
Andererseits können wir annehmen, dass eine bessere Eigentumsverteilung sich durch die vereinigten Anstrengungen der Klugheit und Mäßigung des einzelnen und durch eine die Vermögensgleichheit begünstigende Gesetzgebung erreichen lässt, so weit sich eine solche Gesetzgebung mit den gerechten Ansprüchen der einzelnen auf – die großen und kleinen – Früchte seiner Arbeitstätigkeit verträgt. Wir können beispielsweise annehmen, wie in einem früheren Kapitel angenommen war (siehe Bd. I, Buch 2, II. Kapitel), dass die Summe, die jemand durch Geschenk oder Erbschaft erwerben kann, auf einen Betrag beschränkt würde, der zur Sicherung einer mäßig unabhängigen Stellung ausreichte. Unter diesem zwiefachen Einfluss würden sich in der Gesellschaft vor allem folgende Erscheinungen zeigen: Eine wohl bezahlte, in auskömmlichen Verhältnissen lebende Arbeiterschaft; keine übergroßen Vermögensmassen, mit Ausnahme dessen, was während eines einzelnen Lebens verdient und angesammelt würde; aber eine viel größere Personenzahl als gegenwärtig, die nicht allein von großer Arbeit befreit, sondern auch hinreichend leibliche und geistige Muße hat und mechanischer Kleinarbeit ledig ist, so dass sie die Lebensannehmlichkeiten pflegen und so den weniger begünstigten Volksschichten ein Beispiel hiervon geben kann. Ein solcher unserer heutigen Verfassung sehr vorzuziehender Gesellschaftszustand verträgt sich nicht nur mit dem stationären Zustand vollkommen, sondern scheint seinem Wesen nach diesem Zustand der Ruhe verwandter zu sein als irgendeinem anderen.
Zweifellos gibt es auf der Welt und selbst in alten Ländern noch Raum genug für eine größere Bevölkerungszunahme, wenn wir voraussetzen, dass die Fertigkeiten zur Erringung des Lebensunterhalts weiter verbessert werden und dass das Kapital zunimmt. Obschon dies unschädlich wäre, so muss ich doch gestehen, dass ich wenig Grund dafür sehe, diesen Zustand zu wünschen. Die Bevölkerungsdichtigkeit, die die Menschen befähigt, im größten Maße alle Vorteile der Arbeitsvereinigung und des gesellschaftlichen Verkehrs auszunutzen, ist in allen dicht bevölkerten Ländern bereits erreicht. Eine Bevölkerung kann auch zu dicht aufeinander wohnen, wenn sie auch reichlich mit Nahrung und Kleidung versehen ist. Es ist für den Menschen nicht genug, wenn er mit Gewalt gezwungen wird, immerfort mit seinesgleichen zusammen zu sein. Eine Welt, aus der die Einsamkeit ausgerottet ist, ist ein sehr armseliges Ideal. Einsamkeit in dem Sinne, dass man oft für sich allein ist, ist für ein tiefes Nachdenken oder einen tiefen Charakter von wesentlicher Bedeutung. Und Einsamkeit in der Schönheit und Größe der Natur ist die Wiege von Gedanken und Eingebungen, die oft nicht nur für den einzelnen vorteilhaft sind, sondern auch die Menschheit nicht entbehren kann. Auch liegt nicht viel Befriedigendes in der Anschauung, dass die Welt für die freie Tätigkeit der Natur nichts übrig ließe, dass jeder Streifen Landes, der überhaupt zur Hervorbringung von Nahrung für Menschen fähig ist, auch bebaut werden müsste, dass jedes mit Blumen bedeckte Feld und jede natürliche Wiese umgepflügt und alle Vierfüßler und Vögel, die nicht zum Gebrauch der Menschen gezähmt sind, als seine Rivalen hinsichtlich der Nahrung vertilgt, dass jeder Strauch oder überflüssige Baum ausgerottet werden und kaum ein Platz übrig bleibt, wo ein wilder Strauch oder eine Blume wächst, ohne dass sie als Unkraut im Namen einer Verbesserung der Landwirtschaft ausgerissen werden. Wenn die Erde diesen großen Teil ihrer Annehmlichkeiten verlieren müsste, den sie jetzt Dingen verdankt, die mit einer unbegrenzten Vermehrung des Vermögens und der Bevölkerung unvereinbar sind, nur zu dem Zweck, um eine zahlreiche, nicht aber eine bessere oder glücklichere Bevölkerung zu unterhalten, so will ich zum Besten der Nachwelt aufrichtig hoffen, dass sie mit dem Ruhestand zufrieden ist, lange, bevor eine Notwendigkeit sie zwingt, sich mit ihm zufrieden zu geben.
Ich brauche wohl nicht zu bemerken, dass ein Stillstand in der Kapital- und Bevölkerungszunahme nicht notwendig auch einen Stillstand des menschlichen Kulturfortschritts in sich schließt. Der Spielraum für alle geistige Kultur, für alle sittlichen und gesellschaftlichen Fortschritte würde noch ebenso groß sein, es wäre noch ebenso viel Raum da für die Verschönerung der Lebenshaltung und auch viel mehr Wahrscheinlichkeit für deren Fortschritte, wenn die Gemüter nicht mehr so ausschließlich durch die Sucht, nur wirtschaftlich vorwärts zu kommen, in Anspruch genommen wären. Ja selbst die Fertigkeiten der Erwerbstätigkeit könnten mit dem gleichen Ernst und dem gleichen Erfolg gepflegt werden, nur mit dem Unterschiede, dass die industriellen Verbesserungen anstatt nur der Vermehrung des Vermögens zu dienen, ihre ursprüngliche Wirkung hervorbrächten, nämlich die Arbeit zu verkürzen. Bisher ist es sehr fraglich, ob alle mechanischen Erfindungen die Tagesmühsal eines einzigen Menschen erleichtert haben. Sie haben allerdings die Wirkung gehabt, dass eine größere Bevölkerung das gleiche Leben voll Mühseligkeiten und Beschränkungen führen kann und dass die Zahl der Gewerbetreibenden und anderer, die große Vermögen erwerben, sich sehr vergrößert hat. Sie haben auch die Lebensannehmlichkeiten des Mittelstandes vermehrt. Aber sie haben bisher noch nicht angefangen, die großen Veränderungen in der Lage der Menschheit zu bewirken, deren Durchführung in ihrer Natur liegt und welche die Zukunft vollenden wird. Nur wenn im Verein mit gerechten Staatseinrichtungen die Zunahme der Menschheit unter der wohlüberlegten Führung einer abwägenden Voraussicht steht, können die den Naturmächten durch einsichtige, energische, wissenschaftliche Entdecker abgerungenen Eroberungen das gemeinsame Eigentum der Menschheit und die Mittel zu einer Verbesserung und Hebung des Loses aller werden.
aus: Grundsätze der Politischen Ökonomie Band 2 (1871), Jena 7. Aufl. 1921, S. 387 – 396
John Maynard Keynes (1930/1935)
„Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“
Welchen Stand des wirtschaftlichen Lebens können wir vernünftigerweise von jetzt an in hundert Jahren erwarten? Was sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder?
Von den frühesten Zeiten, über die wir Aufzeichnungen haben – also zurück, sagen wir, bis zweitausend Jahre vor Christus – , bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts gab es keine großen Veränderungen im Lebensstandard des durchschnittlichen, in der zivilisierten Welt lebenden Menschen. Natürlich gab es ein Auf und Ab. Heimsuchungen durch Seuchen, Hungersnöte und Krieg. Goldene Zwischenzeiten. Aber keine fortschreitenden heftigen Veränderungen. … Diese langsame Fortschrittsrate oder dieser Mangel an Fortschritt ist zwei Faktoren zuzuschreiben – dem bemerkenswerten Fehlen von bedeutenden technischen Verbesserungen und dem Versäumnis, Kapital zu akkumulieren. …
Die moderne Zeit begann, so denke ich, mit der Kapitalakkumulation im 16. Jahrhundert. Ich glaube, dies ist ursprünglich auf Preissteigerungen und daraus resultierenden Profiten zurückzuführen, die durch die Gold- und Silberschätze ermöglicht wurden, die Spanien aus der Neuen Welt in die Alte brachte. Von dieser Zeit an bis heute wurde die Kraft der Akkumulation, die über viele Generationen hinweg geschlafen zu haben scheint, mittels Zinseszins wiedergeboren und in ihrer Stärke erneuert. Und die Macht des Zinseszinses über 200 Jahre hinweg ist etwas, was die Vorstellungskraft ins Wanken bringt. Das Kapital ist mit einer Geschwindigkeit gewachsen, die über dem Hundertfachen dessen liegt, was jedes frühere Zeitalter gekannt hat. … Wenn das Kapital um, sagen wir, 2 Prozent pro Jahr wächst, wird sich die Kapitalausstattung der Welt in 20 Jahren um die Hälfte vergrößert haben und um siebeneinhalb Mal in 100 Jahren. Stellen Sie sich das einmal in Form stofflicher Dinge vor – Häuser Transportmittel und ähnliches. …
Das Banken- und Geldsystem der Welt hat verhindert, dass die Zinsrate so schnell fiel, wie es das Gleichgewicht erfordert hätte. …
Es gibt auch Veränderungen in anderen Bereichen, die wir erwarten müssen. Wenn die Akkumulation des Reichtums nicht mehr von hoher gesellschaftlicher Bedeutung ist, werden sich große Veränderungen in den Moralvorstellungen ergeben. … Die Liebe zum Geld als ein Wert in sich – was zu unterscheiden ist von der Liebe zum Geld als einem Mittel für die Freuden und die wirklichen Dinge des Lebens – wird als das erkannt werden, was sie ist, ein ziemlich widerliches krankhaftes Leiden, eine jener halbkriminellen, halbpathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt. Wir werden dann endlich die Freiheit haben, uns aller Arten von gesellschaftlichen Gewohnheiten und wirtschaftlichen Machenschaften zu entledigen, die die Verteilung des Reichtums und der wirtschaftlichen Belohnungen und Strafen betreffen, und die wir jetzt unter allen Umständen, so widerlich und ungerecht sie auch sein mögen, mit allen Mitteln aufrecht erhalten, weil sie ungeheuer nützlich für die Förderung der Kapitalakkumulation sind. …
Ich sehe deshalb für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und zuverlässigsten Grundsätze der Religion und der althergebrachten Werte zurückzukehren, dass Geiz ein Laster ist, das Eintreiben von Wucherzinsen ein Vergehen, die Liebe zum Geld abscheulich und dass diejenigen am wahrhaftigsten den Pfad der Tugend und der maßvollen Weisheit beschreiten, die am wenigsten über das Morgen nachdenken. … Ich freue mich also auf die nicht zu fernen Tage, auf den größten Wandel, welcher sich jemals in der physischen Lebensumwelt der Menschheit als Ganzer ereignet hat. Aber natürlich wird sich alles nach und nach ereignen, nicht als eine Katastrophe.
aus: Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder (1930), dt. Übers. von Norbert Reuter, in: Norbert Reuter, Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität – wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen. Marburg 1998, S. 115-119 und 123-126
„Regionalisierung in einer offenen Weltwirtschaft“
Ich sympathisiere daher mit jenen, die die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Nationen eher minimieren als maximieren wollen. Ideen, Wissen, Kunst, Gastfreundschaft, Reisen – dies sind Bereiche, die aufgrund ihrer Natur international sein sollten. Aber lasst uns auf heimische Produkte zurückgreifen, wann immer dies vernünftig und in angemessener Weise möglich ist; und vor allem, lasst die Finanzen vorrangig im nationalen Rahmen.
aus: National Self-Sufficency (1933), in: Collected Writings Vol. XXI, London 1982, S. 236
„Zustände eines quasi-statischen Gemeinwesens“
Die einzige alternative Gleichgewichtslage würde ein Zustand sein, in dem ein Bestand an Kapital, der groß genug ist, um eine Grenzleistungsfähigkeit von Null zu haben, zugleich einen Vermögensbetrag darstellt, der groß genug ist, um das gesamte Verlangen der Bevölkerung, für die Zukunft vorzusorgen, voll zu befriedigen, selbst in einem Zustand der Vollbeschäftigung, unter Umständen, in denen kein Bonus in der Form von Zinsen erhältlich ist. Es wäre aber ein unwahrscheinliches Zusammentreffen, wenn der Hang zum Sparen in Zuständen der Vollbeschäftigung gerade an dem Punkt befriedigt sein würde, an dem der Kapitalbestand das Niveau erreicht, auf dem die Grenzleistungsfähigkeit Null ist. Wenn daher diese erwähnte günstigere Möglichkeit zu Hilfe kommt, wird sie sich wahrscheinlich nicht gerade an dem Punkt geltend machen, an dem der Zinsfuß verschwindet, sondern an einem früheren Punkt während der allmählichen Senkung des Zinsfußes. …
Nehmen wir an, dass Schritte zur Sicherung der Übereinstimmung des Zinsfußes mit der Rate der Investition unternommen werden, die der Vollbeschäftigung entspricht. Nehmen wir ferner an, dass staatliche Maßnahmen als ein ausgleichender Faktor eingreifen, um vorzusorgen, dass das Wachstum der Kapitalausrüstung derart sein wird, dass sie dem Sättigungspunkt zu einem Satze nahe rückt, welcher der Lebenshaltung der gegenwärtigen Generation keine unverhältnismäßige Bürde auferlegt.
Unter solchen Voraussetzungen würde ich schätzen, dass ein richtig geleitetes, mit modernen technischen Hilfsmitteln ausgerüstetes Gemeinwesen, dessen Bevölkerung nicht sehr rasch zunimmt, in der Lage sein sollte, innerhalb einer einzigen Generation die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals im Gleichgewicht auf ungefähr Null herunter zu bringen, so dass wir die Zustände eines quasi-statischen Gemeinwesens erreicht haben würden, in dem Änderungen und Fortschritt sich nur aus Änderungen in der Technik, im Geschmack, in der Bevölkerung und in den Institutionen ergeben würden, wobei die Erzeugnisse von Kapital zu einem der in ihnen verkörperten Arbeit usw. entsprechenden Preis verkauft werden würden, nach genau den gleichen Grundsätzen, nach denen die Preise von Verbrauchsgütern bestimmt werden, in die Kapitalkosten nur in einem unbeträchtlichen Grade eingehen.
Wenn ich recht habe in meiner Annahme, dass es verhältnismäßig leicht sein sollte, Kapitalgüter so reichlich zu machen, dass die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals Null ist, mag dies der vernünftigste Weg sein, um allmählich die verschiedenen anstößigen Formen des Kapitalismus los zu werden. Denn ein wenig Überlegung wird zeigen, was für gewaltige gesellschaftliche Änderungen sich aus einem allmählichen Verschwinden eines Verdienstsatzes auf angehäuftem Reichtum ergeben werden. Es würde einem Menschen immer noch freistehen, sein verdientes Einkommen anzuhäufen, mit der Absicht, es an einem späteren Zeitpunkt auszugeben. Aber seine Anhäufung würde nicht wachsen. … Obwohl der Rentier verschwinden würde, würde trotzdem noch Raum für Unternehmungslust und für Geschicklichkeit in der Schätzung voraussichtlicher Erträgnisse sein, über welche die Ansichten voneinander abweichen könnten. …
Ich bin überzeugt, dass die Nachfrage nach Kapital streng begrenzt ist in dem Sinne, dass es nicht schwierig wäre, den Bestand an Kapital bis auf einen Punkt zu vermehren, auf dem seine Grenzleistungsfähigkeit auf einen sehr niedrigen Punkt gefallen wäre. Dies würde nicht bedeuten, dass die Benutzung von Kapitalgütern sozusagen nichts kosten würde, sondern nur, dass der Ertrag aus ihnen nicht viel mehr als ihre Erschöpfung durch Wertminderung und Veraltung, zusammen mit einer gewissen Spanne für das Risiko und die Ausübung von Geschicklichkeit und Urteilsvermögen, zu decken haben würde. Kurz gesagt, der Gesamtertrag von dauerhaften Gütern während ihrer Lebensdauer würde, wie im Falle von Gütern von kurzer Dauer, gerade ihre Arbeitskosten der Erzeugung plus einer Entschädigung für das Risiko und die Kosten der Geschicklichkeit und Aufsicht decken.
Obschon dieser Zustand nun sehr wohl mit einem gewissen Maß von Individualismus vereinbar wäre, würde er doch den sanften Tod des Rentiers bedeuten und folglich den sanften Tod der sich steigernden Unterdrückungsmacht des Kapitalisten, den Knappheitswert des Kapitals auszubeuten. Kapitalzinsen sind heute keine Belohnung für ein wirkliches Opfer, so wenig wie die Pachtzinsen von Land. Der Besitzer von Kapital kann Zinsen erhalten, weil das Kapital knapp ist, gerade wie der Besitzer von Land einen Pachtzins erhalten kann, weil das Land knapp ist. Aber während an sich Gründe für die Knappheit von Land bestehen mögen, bestehen an sich keine Gründe für die Knappheit des Kapitals. …
Ich betrachte daher die Rentnerseite des Kapitalismus als eine vorübergehende Phase, die verschwinden wird, wenn sie ihre Leistung vollbracht hat. Und mit dem Verschwinden der Rentnerseite wird noch vieles andere einen Gezeitenwechsel erfahren. Es wird überdies ein großer Vorteil der Ereignisfolge sein, die ich befürworte, dass der sanfte Tod des Rentiers, des funktionslosen Investors, nichts Plötzliches sein wird, sondern nur eine allmähliche, aber verlängerte Fortsetzung dessen, was wir jüngst in Großbritannien gesehen haben, und keine Revolution erfordern wird.
aus dem 16. und 24. Kapitel der „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (1935), 6. Aufl. der dt. Übers. Berlin 1976, S. 182-185 und 316-317
Prof. Dr. Walter Eucken (1952)
Neben der vollständigen Konkurrenz soll und wird die „Eigenwirtschaft“ eine weit verbreitete Ordnungsform sein. … Im Bauernhof sind beide Ordnungsformen miteinander verschmolzen. In anderer Weise sind sie es in der Haushaltung des Metallarbeiters, der zugleich einen Schrebergarten besitzt und dort für seine Familie Kartoffeln, Gemüse und Obst anbaut. Angesichts der außerordentlichen Schwierigkeiten, die moderne arbeitsteilige Wirtschaft zureichend zu ordnen, ist es wesentlich, dass diese eigenwirtschaftlichen Elemente durch die Wirtschaftspolitik gepflegt werden. Dadurch werden die Menschen unabhängiger vom Markt und haben in Notzeiten eine gewisse Sicherung.
aus: Grundsätze der Wirtschaftspolitik (1952), Tübingen 3. Aufl. 1962, S. 246-247
Prof. Dr. Ludwig Erhard (1957)
„Über die ‚letzten Ziele‘ des Wirtschaftens“
Ich glaube nicht, dass es sich bei der wirtschaftspolitischen Zielsetzung der Gegenwart gleichsam um ewige Gesetze handelt. Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen „Fortschritt“ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen. Hier ist dann aber nicht mehr nur der Wirtschaftsminister, sondern in gleicher Weise der Theologe, der Soziologe und der Politiker angesprochen. …
Solange man auf der politischen Ebene nach dem Motto verfährt: „Lasst uns weniger arbeiten, auf dass wir mehr konsumieren können!“, sind wir auf dem falschen Wege. Wenn der angestoßene Entfaltungsprozess aber in dem Sinne verläuft, dass unser Volk neben dem unverzichtbaren Wert auf Sicherung materieller Lebensführung in steigendem Maße eine geistige oder seelische Bereicherung als nützlich und wertvoll erachtet, dann werden wir in ferneren Tagen auch zu einer Korrektur der Wirtschaftspolitik kommen müssen. Niemand dürfte dann so dogmatisch sein, allein in der fortdauernden Expansion, d.h. im Materiellen, noch länger das Heil erblicken zu wollen.
aus: Wohlstand für alle (1957), Düsseldorf 3. Aufl. 1990, S. 232-233
Prof. Dr. Hannah Arendt (1958)
Die große Hoffnung, die Marx und die Besten der Arbeiterbewegung in allen Ländern beseelte: dass Freizeit schließlich den Menschen von der Notwendigkeit befreien und das Animal laborans produktiv machen würde, beruht auf den Illusionen einer mechanistischen Weltanschauung, die annimmt, dass Arbeitskraft, gleich jeder anderen Energie, niemals verloren gehen kann und daher, wenn sie nicht in der Plage des Lebens verbraucht und erschöpft ist, automatisch frei wird für das „Höhere“. …
Hundert Jahre nach Marx wissen wir um den Trugschluss dieses Arguments nur zu gut Bescheid. Die überschüssige Zeit des Animal laborans wird niemals für etwas anderes verbraucht als Konsumieren, und je mehr Zeit ihm gelassen wird, desto begehrlicher und bedrohlicher werden seine Wünsche und sein Appetit. Zwar verfeinern sich die Begehrlichkeiten, so dass der Konsum nicht mehr auf die Lebensnotwendigkeiten beschränkt bleibt, sondern im Gegenteil sich gerade des Überflüssigen bemächtigt. Aber dies ändert nicht den Charakter der Gesellschaft, sondern birgt im Gegenteil die schwere Gefahr in sich, dass schließlich alle Gegenstände der Welt, die sogenannten Kulturgegenstände wie die Gebrauchsobjekte, dem Verzehr und der Vernichtung anheimfallen. …
Aber was wir bisher an Resultaten aufzuweisen haben, ist, was man euphemistisch Massenkultur nennt und was in Wahrheit ein Gesellschaftszustand ist, in dem die Kultur zum Zwecke der Unterhaltung der Massen, denen man die leere Zeit vertreiben muss, benutzt, missbraucht und aufgebraucht wird. Dass diese Massengesellschaft zudem weit davon entfernt ist, den Zustand des „Glücks für die größte Anzahl“ zu verwirklichen, hat sich inzwischen herumgesprochen. Gerade ein dem akuten, virulenten Unglücklichsein schon sehr nahekommendes allgemeines Unbehagen ist die Stimmung, von der moderne Massen im Überfluss ergriffen werden. Woran sie leiden, ist einfach das zutiefst gestörte Gleichgewicht zwischen Arbeit und Verzehr, zwischen Tätigsein und Ruhe. …
Nichts vielleicht ist geeigneter unsere Aufmerksamkeit auf dies unselige Glücksideal des Animal laborans und die Gefahr seiner Verwirklichung zu lenken, als das Tempo, mit dem die moderne Wirtschaft notwendigerweise sich in Richtung einer „waste economy“, einer auf Vergeudung beruhenden Wirtschaft, entwickelt, die jeden Gegenstand als Ausschussware behandelt und die Dinge fast so schnell, wie sie in der Welt erscheinen, auch wieder aufbraucht und wegwirft, weil sonst der ganze komplizierte Prozess mit einer plötzlichen Katastrophe enden würde. …
Für das Animal laborans, und das heißt natürlich für jeden Menschen, sofern der Mensch immer auch ein arbeitendes Wesen ist, spenden Erde und Natur den Segen, bieten das Füllhorn der „guten Dinge“, die allen Kindern der Erde gleicherweise gehören und die sie ihr „aus den Händen nehmen“, um sich mit ihnen zu „vermischen“ in Arbeit und Verzehr. …
Das Funktionieren der modernen Wirtschaft … verlangt, dass alle weltlichen Dinge in einem immer beschleunigteren Tempo erscheinen und verschwinden. Sie würde sofort zum Stillstand kommen, wenn Menschen anfangen würden, Dinge in Gebrauch zu nehmen, sie zu respektieren und den ihnen innewohnenden Bestand zu erhalten.
aus: Vita activa oder: Vom tätigen Leben (amerikanische Erstausgabe 1958 unter dem Titel „The Human Condition“), München 10. Auflage 1998, S. 149 und 156-159
Prof. Dr. Leopold Kohr (1962)
„Abschied von der ‚Wolkenkratzer-Wirtschaft‘“
Zeichen deuten darauf hin, dass das Problem in den meisten größeren Gesellschaften der Gegenwart nicht mehr darin besteht, wie man das Wachstum fördern, sondern wie man es aufhalten kann. … Ist eine Gesellschaft erst einmal groß genug geworden, um die geselligen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen voll zu befriedigen, d.h. wenn sie ihnen Muße zum Denken gibt, Gaststätten zum Debattieren, Kirchen zum Beten, Universitäten zum Lehren, Theater zur Inspiration und Kunst, um sich daran zu erfreuen, dann kann ein weiteres Wachstum ihrem ursprünglichen Zweck nicht mehr von Nutzen sein. Wir haben den Punkt des abnehmenden Lebensstandards erreicht.
aus: Die überentwickelten Nationen – Rückbesinnung auf die Region (1962), München 1983, S. 58
Der Wert eines Wirtschaftssystems darf unter allen Umständen nicht, wie das häufig geschieht, nach seiner maximalen Produktivität gemessen werden, sondern nach der maximalen Befriedigung, die es gewährt. … Je größer der Staat wird, desto kleiner muss der Bereich der Freiheit des einzelnen werden. … Wo Freiheit herrschte, herrscht nun Disziplin, wo es Mannigfaltigkeit gab, gibt es jetzt Einförmigkeit. … In einer zu großen Gesellschaft wirkt das Wachstum kollektivierend.
aus: Die überentwickelten Nationen – Rückbesinnung auf die Region (1962), München 1983, S. 82, 92 und 97
Nachdem die Volkswirtschaftslehre die ganze Skala von der politischen über die mathematische bis zur illustrierenden Volkswirtschaft durchlaufen hat, muss sie zu der Disziplin zurückkehren, der sie entsprang, und zur philosophischen Volkswirtschaftslehre werden oder, um den aristotelischen Ausdruck beizubehalten, zur Meta-Ökonomik. … Die wichtigste Gegenwartsfrage lautet nicht: Wie kann man das Wachstum einer sich ständig ausweitenden Wirtschaft in Gang halten? Sondern: Wie kann man es zum Stillstand bringen? … Die meta-ökonomische Methode würde das nahe legen, was andere Methoden anscheinend unfähig sind wahrzunehmen: die Dringlichkeit einer Verlagerung des theoretischen Akzents von der Wachstumsökonomik, von der unsere großen Universitäten noch immer beherrscht sind, zur Formökonomik, deren akademische Formulierung genau so überfällig ist, wie es der Übergang zur makroökonomischen Analyse in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts gewesen ist.
aus: Die überentwickelten Nationen – Rückbesinnung auf die Region (1962), München 1983, S. 165, 171 und 208
Prof. Dr. Kenneth Boulding (1966)
„Raumschiff Erde“
Nach und nach hat sich der Mensch daran gewöhnt, dass die Erde eine Kugel und damit eine endliche Fläche für menschliche Aktivität ist. … Aber selbst heute sind wir noch weit davon entfernt, die moralischen, politischen und psychologischen Anpassungen vorzunehmen, die der Übergang von einer unbegrenzten Fläche zu einer begrenzten Kugel erfordert. Besonders Ökonomen, jedenfalls die meisten, haben es nicht geschafft, die grundlegenden Konsequenzen aus diesem Übergang von offener zu geschlossener Erde zu ziehen. …
Die umfangreichen Energieinputs aus fossilen Brennstoffen sind absolut endlich. … Wenn der Rest der Welt auf den Standard amerikanischen Energieverbrauchs aufrücken würde und wenn dabei auch noch die Weltbevölkerung weiter wüchse, wären die fossilen Brennstoffe noch schneller verbraucht. Die Entwicklung nuklearer Energie hat diese Prognose verbessert, aber nicht wirklich verändert – jedenfalls nicht beim derzeitigen Stand der Technik, denn spaltbares Material ist noch relativ knapp. …
Die geschlossene Erde der Zukunft erfordert wirtschaftliche Prinzipien, die sich von denen für die offene Erde der Vergangenheit unterscheiden. Weil es so ein schönes Bild ist, möchte ich die offene Ökonomie die „Cowboy-Ökonomie“ nennen. Der Cowboy ist ein Symbol für grenzenlose Ebenen und gilt außerdem als rücksichtslos, ausbeuterisch, romantisch und gewalttätig – was auch für offene Gesellschaften charakteristisch ist. Die geschlossene Ökonomie der Zukunft könnte man entsprechend die „Raumfahrer-Ökonomie“ nennen. Die Erde ist zu einem einzigen Raumschiff geworden, auf dem alle Vorratslager, die man anzapfen oder verschmutzen könnte, begrenzt sind. …
Der Unterschied zwischen beiden Wirtschaftstypen wird besonders in ihrer Haltung zum Verbrauch deutlich. In der Cowboy-Ökonomie sind Verbrauch und Produktion positiv; der Erfolg der Wirtschaft wird am Durchsatz der „Produktionsfaktoren“ gemessen. … Im Gegensatz dazu ist in der Raumfahrer-Ökonomie Durchsatz überhaupt nicht erwünscht, sondern die Bemühungen gehen dahin, ihn eher zu minimieren als zu maximieren. … Die Raumfahrer-Ökonomie beschäftigt sich vorrangig mit der Pflege und Aufrechterhaltung ihrer Bestände, so dass jede technologische Veränderung, die einen bestimmten Vorrat bei geringerem Durchsatz unangetastet lässt, eindeutig ein Gewinn ist.
Die Vorstellung, dass sowohl Produktion als auch Verbrauch negative Größen sind, ist sehr merkwürdig für Ökonomen, die von Einkommensfluss-Konzepten bis zum fast vollständigen Ausschluss von Kapitalbestands-Konzepten besessen gewesen sind. … Ökonomen denken und handeln weiter so, als ob Produktion, Verbrauch, Durchsatz und Bruttosozialprodukt hinreichende und angemessene Maßeinheiten für wirtschaftlichen Erfolg wären. … Die zufriedenste individuelle Identität hat jemand, der sich nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich mit einem Gemeinwesen identifiziert, das von der Vergangenheit in die Zukunft reicht. Wenn diese Form der Identität als erstrebenswert angesehen wird, dann muss auch die Stimme der Nachwelt gehört werden. … Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Individuen die Zukunft nicht einbeziehen, nicht mal in ihrem eigenen Leben. Die schlichte Existenz eines positiven Zinssatzes ist mindestens ein starkes Indiz für diese These. …
Ich würde sagen, dass Morgen nicht nur sehr nahe ist, sondern in vielerlei Hinsicht eigentlich schon da. Der Schatten des zukünftigen Raumschiffs liegt schon über unserer verschwenderischen Fröhlichkeit.
aus: Die Ökonomik des zukünftigen Raumschiffs Erde, in: Sabine Höhler & Fred Luks, „Beam us up, Boulding! – 40 Jahre Raumschiff Erde“, Karlsruhe 2006, S. 9, 13 und 15-19. (Beiträge und Berichte der Vereinigung für Ökologische Ökonomie Heft 7)
Prof. Dr. Hans Christoph Binswanger (1972)
Die Wirtschaft beginnt mit dem ökonomischen Kreislauf und mündet in einen ökonomischen Kapitalisierungs- bzw. ökologischen Entkapitalisierungs- und Zerstörungsprozess. … Dieser Kreislaufprozess ist nun nach mehreren Anläufen im Altertum (Sumer, Ägypten, Griechenland, Rom) in der Neuzeit auf universeller Ebene in das Stadium des Kapitalisierungsprozesses übergegangen. Dieses Stadium ist charakterisiert durch den sog. take-off und die darauf folgenden Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung im Sinne der Zinseszinsrechnung. …
An die Stelle eines Kreislaufs tritt somit eine Spirale. … Die Erfahrung zeigt, dass diese Niveauerhöhung vom Moment des take-offs an in langfristiger Betrachtungsweise exponentieller Natur ist. Der Zuwachs ist wie beim Zinseszins proportional zum jeweils erreichten Stand, ohne dass eine hemmende Größe diesen Zuwachs vermindert. …
Wenn wir diesen Endprozess nicht einleiten wollen, müssen wir den exponentiellen Wachstumstrend der Wirtschaft … in ein neues ökonomisch-ökologisches Kreislaufsystem einmünden lassen. …
Es kommt darauf an, den Motor des Wachstumsprozesses – die inneren Kräfte der wirtschaftlichen Expansion – zu entdecken, bevor man korrigierend in den Prozess eingreifen kann. …
Im Zentrum steht das Kapital, das, wenn es in Form des Kredits auftritt, verzinst werden muss oder, wenn es in Form des Eigenkapitals der Kapitalgesellschaft auftritt, rentieren muss. Der Gewinn muss daher mindestens so groß sein, das er den Zinseszinsanspruch des Kapitals gewährleistet. Es liegt auf der Hand, dass diesem Anspruch eine der Zinseszinsentwicklung adäquate, d.h. exponentielle Entwicklung des wirtschaftlichen Prozesses entspricht. …
Wir müssen den aristotelischen Ansatz in einem neuen Sinne verwenden. Hat Aristoteles die „Hauswirtschaft“ mehr oder weniger autarker Wirtschaftseinheiten als „natürliche Erwerbskunst“ bezeichnet und sie der kommerziellen Wirtschaft des Marktes gegenüber gestellt, die er der „gegen die Natur gerichteten Erwerbskunst“ zurechnet, so liegt es auf der Hand, dass wir heute wieder zu einer „natürlichen Erwerbskunst“ zurückkehren müssen, allerdings nicht auf der Ebene des Einzelhaushaltes, sondern des Welthaushaltes, der Ökosphäre. Das Wort „Ökonomie“ erhielte auf diesem höheren Niveau vor dem Hintergrund der neuen Dimensionen der Wirtschaftstheorie ihre alte aristotelische Bedeutung der auf ein endliches Ziel ausgerichteten Versorgungswirtschaft wieder zurück, die mit der Begrenztheit der Welt im Einklang steht. Ökonomie und Ökologie würden zu einer neuen, heute erst erahnbaren Einheit verschmelzen.
aus: „Ökonomie und Ökologie – neue Dimensionen der Wirtschaftstheorie“, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik Band 108 (1972), S. 256-257, 260-261, 266 und 277-278
Prof. Dr. Werner Braunbek (1973)
„Stürzt den Götzen Wachstum!“
Die unheimliche Wachstumsformel ist der schwerste Schatten über der Zukunft der Menschheit. … Ein beliebiges Kapital verdoppelt sich nach der Zinseszinsrechnung, wenn es zu 5 % angelegt und der Zins an jedem Jahresende zum Kapital zugeschlagen wird, in rund 14 Jahren. Im Jahrhundert gibt das etwa sieben Verdopplungen, d.h. ein Anwachsen auf das 128-fache. … Dies übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Und doch kommt das Ergebnis aus einem so alltäglichen Vorgang wie einer Geldanlage auf Zinseszins. … Das exponentielle Wachstum kommt offenbar dadurch zustande, dass jeder Zuwachs – der Zins – selbst wieder Zins trägt. … Sehr wesentlich für das Tempo des Anwachsens eines Kapitals ist der Zinsfuß. In dem Maß, wie der Zinsfuß höher wird, sinkt die Verdopplungszeit. …
Mehrere Milliarden Jahre waren nötig, bis sich auf unserem Erdball das Leben bis zu der Stufe entfaltete, die es heute innehat. Eine Million Jahre nur oder bestenfalls wenige Millionen, noch nicht ein Tausendstel der gesamten Spanne, hat der Mensch teil an dieser Entwicklung. Zu jedem Zeitpunkt des milliardenjährigen Verlaufs war die Natur im Gleichgewicht, einem Fließgleichgewicht freilich. … Zum ersten Mal in seiner millionenjährigen Geschichte ist der Mensch imstande, die Erdoberfläche, seine gesamte Umwelt, merkbar umzuformen, und dies zu seinem Schaden. Zum ersten Mal ist der Mensch auch imstande, seine eigene Art auf der Erde auszulöschen – rasch durch einen globalen Atomkrieg oder langsam durch Fortsetzung des Weges, den er beschritten hat. Diese ganze bedrohliche Entwicklung ist erst ein rundes Jahrhundert alt, eine minimale Spanne für geschichtliche Abläufe. Denkt man sich zeitraffend die Evolution der Menschheit auf eine Stunde zusammengedrängt, so dauerte der gefährliche Umschwung erst eine Drittelsekunde. Ist es da verfehlt, von einer Explosion zu reden? …
Auch ohne großen Krieg ist die Lage der Menschheit schwierig genug. Die Schwierigkeiten gründen sich auf krankhafte exponentielle Wachstumserscheinungen, auf das Wachstum der Industrie, des Handels, des Rohstoffbedarfs, des Energieverbrauchs. Sämtliche wirtschaftlichen Vorgänge werden letzten Endes von einer einzigen Macht gesteuert: vom Geld. …
Kann jemand sich ernstlich einen Welthandel denken, der das 16-fache Volumen des heutigen hat oder selbst das 10-fache? … Wildes Wachstum in zahllosen Richtungen ist das Hauptmerkmal der modernen Zivilisationsepoche der Menschheit. Es wächst die Menge der Menschen, es wachsen die Ansprüche, es wächst der gesamte Bedarf, Industrie und Handel wachsen, Städtebau und Verkehr wachsen, es wächst der Verbrauch von Rohstoffen und Energie, es wächst der Abfall, Löhne und Preise wachsen, Kapital und Produktivität wachsen, Lärm und Unrast des Lebens wachsen, Verschmutzung und Vergiftung von Wasser und Luft wachsen. Was eigentlich wächst nicht? Am langsamsten wächst leider die Einsicht der Menschen, dem Wachstum der Menschen ein Ende zu setzen. … Einzig eine gleichzeitige Abbremsung vieler gefährlicher Wachstumsprozesse scheint eine gewisse Chance zu eröffnen, ohne allzu große Erschütterungen den Übergang in einen Gleichgewichtszustand zu meistern. …
Ehe man praktisch etwas dagegen tun kann, dass die Zukunftsentwicklung in die Wachstumskatastrophe steuert, muss man erwägen, welche Antriebskräfte eigentlich die Übersteigerung auf allen Gebieten heraufbeschworen haben. Einblick in diese Kräfte ist die unerlässliche Voraussetzung für jede Gegenreaktion. …
Will die Menschheit die zweite Hälfte des nächsten Jahrhunderts in einer menschenwürdigen Form erleben, kann es nur ein einziges Gebot geben, dem alles andere zu weichen hat: Stürzt den Götzen Wachstum! … Was Not tut, ist eine schrittweise, wohlüberlegte, sorgfältig geplante Umwandlung der Wachstumsweltwirtschaft in eine Gleichgewichtsweltwirtschaft.
aus: Die unheimliche Wachstumsformel, München 1973, S. 7, 21-27, 67-70, 111, 116, 124, 126, 161 und 166
Prof. Dr. Jürgen Habermas (1973)
Die rapiden Wachstumsprozesse spätkapitalistischer Gesellschaften haben das System der Weltgesellschaft mit Problemen konfrontiert, die sich nicht als systemspezifische Krisenerscheinungen verstehen lassen, wenngleich die Möglichkeiten der Krisenverarbeitung systemspezifisch begrenzt sind. Ich denke dabei an die Störung des ökologischen Gleichgewichts, an die Verletzung von Konsistenzforderungen des Persönlichkeitssystems (Entfremdung) und an die explosive Belastung internationaler Beziehungen. Mit wachsender Komplexität verschiebt das System der Weltgesellschaft seine Grenzen so weit in seine Umwelten hinein, dass es an Kapazitätsschranken sowohl der äußeren wie der inneren Natur stößt. …
Mit der Kapitalakkumulation ist das wirtschaftliche Wachstum naturwüchsig institutionalisiert worden, so dass eine Option für die selbstbewusste Steuerung dieses Prozesses nicht besteht. Die zunächst vom Kapitalismus befolgten Wachstumsimperative haben inzwischen über Systemkonkurrenz und erdumfassende Diffusion globale Geltung erlangt. …
Selbst bei optimistischen Annahmen lässt sich eine absolute Wachstumsschranke angeben (wenn auch vorerst noch nicht genau bestimmen), nämlich die Schranke der thermalen Umweltbelastung in Abhängigkeit vom Energieverbrauch. Wenn wirtschaftliches Wachstum mit steigendem Energieverbrauch notwendig gekoppelt ist und wenn alle in wirtschaftlich nutzbare Energie verwandelte Naturenergie … letztlich als Wärme freigesetzt wird, dann muss der steigende Energieverbrauch auf die Dauer eine globale Erwärmung zur Folge haben. Die Ermittlung der kritischen Zeitspannen ist wiederum empirisch nicht einfach. … Immerhin zeigen diese Überlegungen, dass ein exponentielles Wachstum von Bevölkerung und Produktion, also die Ausdehnung der Kontrolle über die äußere Natur, eines Tages an Grenzen der biologischen Umweltkapazität stoßen muss.
aus: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, S. 61-63
Prof. Dr. Erich Fromm (1976)
„Haben oder Sein“
Die Entwicklung dieses Wirtschaftssystems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt, sondern durch die Frage: Was ist gut für das Wachstum de Systems? Die Schärfe dieses Konflikts versuchte man durch die These zu verschleiern, dass alles, was dem Wachstum des Systems (oder auch nur eines einzigen Konzerns) diene, auch das Wohl der Menschen fördere. … Das Verhältnis des Menschen zur Natur wurde zutiefst feindselig. … Unser Eroberungsdrang und unsere Feindseligkeit haben uns blind gemacht für die Tatsache, dass die Naturschätze begrenzt sind und eines Tages zur Neige gehen können und dass sich die Natur gegen die Raubgier der Menschen zur Wehr setzen wird. …
Die Popularität der Ansicht, es gebe keine Alternativen zum Monopolkapitalismus, zum sozialdemokratischen oder sowjetischen Sozialismus oder zum technokratischen „Faschismus mit lächelndem Gesicht“, ist zum großen Teil darauf zurück zu führen, dass kaum der Versuch unternommen wurde, die Möglichkeiten einer Verwirklichung völlig neuer Gesellschaftsmodelle zu untersuchen und entsprechende Experimente zu machen. Solange die Probleme einer Umformung der Gesellschaft nicht wenigstens annähernd den Platz in den Köpfen unserer Wissenschaftler einnehmen, den die Naturwissenschaften und die Technik innehaben …, werden Kraft und Vision mangeln, neue und reale Alternativen zu sehen. …
Die Haben-Orientierung ist charakteristisch für den Menschen der westlichen Industriegesellschaft, in welcher die Gier nach Geld, Ruhm und Macht zum beherrschenden Thema des Lebens wurde. … Konsumieren ist eine Form des Habens, vielleicht die wichtigste in den heutigen „Überflussgesellschaften“. … Der Einzelne erlebt sich selbst als Ware und den eigenen Wert nicht als „Gebrauchswert“, sondern als „Tauschwert“. … Der Mensch kümmert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit. Menschen mit einer Marketing-Charakterstruktur haben kein Ziel – außer ständig in Bewegung zu sein und alles mit größtmöglicher Effizienz zu tun. …
In der Existenzweise des Habens findet der Mensch sein Glück in der Überlegenheit gegenüber anderen, in seinem Machtbewusstsein und in letzter Konsequenz in seiner Fähigkeit, zu erobern, zu rauben und zu töten. In der Existenzweise des Seins liegt es im Lieben, Teilen und Geben. … Mit „Sein“ meine ich eine Existenzweise, in der man nichts hat und nichts zu haben begehrt, sondern voller Freude ist, seine Fähigkeiten produktiv nutzt und eins mit der Welt ist. …
Zu vernünftigem Konsum kann es nur kommen, wenn immer mehr Menschen ihr Konsumverhalten und ihren Lebensstil ändern wollen. … Gesunder und vernünftiger Konsum ist nur möglich, wenn wir das Recht der Aktionäre und Konzernleitungen, über ihre Produktion ausschließlich vom Standpunkt des Profits und Wachstums zu entscheiden, drastisch einschränken.
aus: Haben oder Sein (englische Erstausgabe 1976), Stuttgart 1979, S. 17, 21, 29, 36, 84,146-147, 175 und 177
Ernst Friedrich Schumacher (1977)
„Small is beautiful“
Die Ökonomie der Stetigkeit verlangt eine gründliche Umorientierung von Wissenschaft und Technik, die der Vernunft gegenüber offen ist und sie sogar in ihre Strukturen mit einbeziehen muss. … Immer größere Maschinen, die immer größere Zusammenschlüsse wirtschaftlicher Macht bedingen und immer größere Gewalt gegen die Umwelt anwenden, stellen keinen Fortschritt, sondern eine Verneinung der Vernunft dar. … Wir leiden heute unter einer nahezu umfassenden Vergötterung des Gigantischen. Daher müssen wir auf die Vorzüge der Kleinheit dringen, wo das in Frage kommt. … Die Wirtschaftswissenschaft des Gigantischen und der Automation ist ein Überbleibsel aus den Zuständen und dem Denken des 19. Jahrhunderts. … Auf der einen Seite sehe ich die Leute der kopflosen Flucht nach vorn. Auf der anderen Seite sind diejenigen, die nach einer neuen Lebensweise suchen, die zu bestimmten Grundwahrheiten über den Menschen und seine Welt zurückzukehren trachten. Sie nenne ich Heimkehrer. … Wenn wir uns jetzt klar machen, dass die moderne Lebensweise uns in tödliche Gefahr bringt, empfinden wir es möglicherweise als richtig, diese Pioniere zu unterstützen und uns ihnen sogar anzuschließen statt sie zu verspotten oder nicht zur Kenntnis zu nehmen. … Sie zeigen, dass eine Mittlere Technologie mit menschlichen Zügen wirklich möglich ist. … Der Mensch ist klein und daher ist klein schön. Wer auf Riesenhaftigkeit setzt, der setzt auf Selbstzerstörung.
aus: Small is beautiful – Die Rückkehr zum menschlichen Maß, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 29-30, 59, 67, 140-141 und 144
Der moderne Mensch erfährt sich selbst nicht als Teil der Natur, sondern als eine von außen kommende Kraft, die dazu bestimmt ist, die Natur zu beherrschen und zu überwinden. … Es könnte kaum eine bedeutendere Unterscheidung geben als die zwischen naturgegebenen und von Menschenhand geschaffenen Gütern. … Immerhin ist der Mensch kein Erzeuger, sondern lediglich ein Umwandler. … Wirtschaftswissenschaft saugt die gesamte Ethik auf und bekommt Vorrang vor allen anderen menschlichen Erwägungen. Die richtige Verwendung von Grund und Boden stellt kein technisches oder wirtschaftliches, sondern in erster Linie ein metaphysisches Problem dar. … Es geht um die gesamte Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur, die ganze Lebensweise einer Gesellschaft, um Gesundheit, Glück und Harmonie des Menschen sowie die Schönheit seiner natürlichen Umwelt. … Unser Verhalten dem Boden gegenüber kann sich erst dann wirklich ändern, wenn zuvor ein großes Maß an philosophischer, um nicht zu sagen religiöser Veränderung stattgefunden hat.
aus: Small is beautiful – Die Rückkehr zum menschlichen Maß, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 12, 45, 62-63, 95 und 106
Wir nehmen, wie das die Fachleute getan haben, die metaphysische Position des simpelsten Materialismus ein, für den die mit Geld bewerteten Kosten und das in Geld ausgedrückte Einkommen die entscheidenden Kriterien und bestimmenden Größen menschlichen Tuns sind. Bei dieser Betrachtungsweise hat die lebende Welt keine Bedeutung – außer der, gleichsam wie ein Steinbruch ausgebeutet zu werden. … Unsere westliche Gesellschaft hat keine festen meta-wirtschaftlichen Wertmaßstäbe. Wo aber solche Maßstäbe nicht bestehen, kommt die Rentabilitätsberechnung an die Macht.
aus: Small is beautiful – Die Rückkehr zum menschlichen Maß, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 102 und 106
Keine noch so große wirtschaftliche Blüte könnte die Ansammlung großer Mengen hochgiftiger Stoffe rechtfertigen, von denen niemand weiß, wie „sicher“ sie zu machen sind. … Ein solches Tun ist ein Angriff gegen das Leben selbst, ein weit ernsthafterer Angriff als jedes vom Menschen jemals begangene Verbrechen. Die Vorstellung, dass eine Gesellschaft auf der Grundlage solcher „Verbrechen“ leben kann, ist ethisch, geistig-seelisch und metaphysisch gesehen ein Unding.
Die Technologie erkennt keinen Grundsatz der Selbstbegrenzung an – beispielsweise im Hinblick auf Größe, Geschwindigkeit oder Gewalttätigkeit. … Daher besitzt sie nicht die positive Fähigkeit, sich selbst auszugleichen. … Was wir heute in der modernen Industriegesellschaft haben …, befindet sich in sehr großen Schwierigkeiten und hat keine Zukunft. Wir müssen einfach den Mut haben zu träumen, wenn wir weiterleben und unseren Kindern auch diese Möglichkeit geben wollen. Die Krise verschwindet nicht, wenn wir einfach wie bisher weitermachen. Sie wird schlimmer werden und zur Katastrophe führen, wenn wir nicht eine neue Lebensweise entwickeln, die mit den wirklichen Bedürfnissen der Menschennatur vereinbar ist, mit der Gesundheit der lebenden Natur um uns herum und mit den Rohstoffvorräten der Welt. Was wir brauchen: eine Technologie mit menschlichen Zügen, die statt die Hände und Köpfe von Menschen überflüssig zu machen, ihnen hilft, weit produktiver zu werden, als sie es je waren.
aus: Small is beautiful – Die Rückkehr zum menschlichen Maß, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 132-133 und 138-139
Es überrascht nicht, dass viele Sozialisten … sich gegenwärtig fragen, ob Verstaatlichung nicht überhaupt am Problem vorbeigeht. … Die Abschaffung des Privateigentums allein führt zu keinen großartigen Ergebnissen. … Der private Besitz des arbeitenden Inhabers hat etwas Natürliches und Gesundes an sich, während der Privatbesitz des untätigen Eigentümers, der schmarotzerhaft von der Arbeit anderer lebt, etwas Unnatürliches und Ungesundes an sich hat. … Nicht Privateigentum, sondern von der Arbeit gelöstes Privateigentum verstößt gegen den Grundsatz der Industrie. Und die Vorstellung einiger Sozialisten, dass Privatbesitz an Land oder Kapital unbedingt schädlich ist, ist von ebenso sinnloser scholastischer Kleinlichkeit wie die jener Konservativen, die allem Besitz eine Art geheimnisvollen Glorienschein zubilligen wollen. Privateigentum mit Besitz ist automatisch klein, persönlich und ortsbezogen. … Aus Kleinunternehmen lassen sich keine großen Privatvermögen gewinnen, ihr gesellschaftlicher Nutzen ist jedoch sehr groß. … Bei Großunternehmen ist Privateigentum ein vorgeschobener Begriff, der es funktionslosen Eigentümern ermöglichen soll, schmarotzerhaft von der Arbeit anderer zu leben.
aus: Small is beautiful – Die Rückkehr zum menschlichen Maß, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 229 und 237-240
Prof. Dr. Nikolas Georgescu-Roegen (1979)
„Thermodynamik und Wirtschaft“
Das Bild, das die üblichen Lehrbücher vom ökonomischen Prozess entwerfen: es ist ein kreisförmiges Schema, eine Pendelbewegung zwischen Produktion und Konsum in einem völlig geschlossenen System. … Die unleugbare Tatsache, dass zwischen dem ökonomischen Prozess und der materiellen Umwelt eine ununterbrochene, geschichtsbildende Wechselwirkung besteht, macht dem Durchschnittsnationalökonomen keinen Eindruck. Dasselbe gilt für den marxistischen Wirtschaftstheoretiker. Auch in dem berühmten Reproduktionsschema, das Marx hinterlassen hat, erscheint der ökonomische Prozess als eine kreisförmige und völlig in sich selbst ruhende Angelegenheit.
Die gesamte Wirtschaftsgeschichte der Menschheit beweist ganz unzweifelhaft, dass die Natur eine wichtige Rolle sowohl im ökonomischen Prozess als auch in der wirtschaftlichen Wertschöpfung spielt. Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir diese Tatsache anerkennen und über ihre Konsequenzen für das Wirtschaftsproblem der Menschheit nachdenken. …
Ein unorthodoxer Nationalökonom – wie ich einer bin – würde sagen, dass das, was in den ökonomischen Prozess aufgenommen wird, aus wertvollen natürlichen Stoffen besteht, und das, was aus ihm entlassen wird, aus wertlosem Abfall. … Vom Gesichtspunkt der Thermodynamik aus tritt Materie/Energie in den ökonomischen Prozess in einem Zustand niedriger Entropie ein und sie verlässt ihn in einem Zustand hoher Entropie. …
Nichts könnte wirklichkeitsfremder sein als die Idee, dass der ökonomische Prozess ein isolierter, in sich selbst verlaufender Vorgang sei, wie die marxistische und die landläufige Lehre es behauptet. Er ist solid auf einem materiellen Fundament verankert, das bestimmten Zwängen unterliegt. Diese Zwänge sind es, die den ökonomischen Prozess zu einer nur in einer Richtung verlaufenden, unwiderruflichen Entwicklung machen.
In der Wirtschaft zirkuliert nur Geld hin und her, von einem Sektor zum anderen. … Rückblickend glaubt man zu erkennen, dass die Nationalökonomen beider Observanzen dem schlimmsten Fetischismus erlegen sind, den es gibt – dem Geldfetischismus. …
Das Problem der wirtschaftlichen Verwendung des terrestrischen Vorrats an niedriger Entropie … ist die eigentliche Schicksalsfrage der Menschheit. … Je höher die wirtschaftliche Entwicklung, desto größer die jährliche Abnahme der Vorräte und demgemäß desto kürzer die Lebenserwartung der menschlichen Spezies.
Was das bedeutet, liegt auf der Hand. Jedes Mal, wenn wir einen Cadillac produzieren, zerstören wir unwiderruflich eine bestimmte Menge von niedriger Entropie, die dazu dienen könnte, einen Pflug oder einen Spaten herzustellen. Mit anderen Worten: jeder Cadillac, der vom Band läuft, wird in Zukunft Menschenleben kosten. Wirtschaftliche Entwicklung durch industriellen Überfluss … verstößt ganz eindeutig gegen die Interessen der Menschheit als Ganze, wenn sie solange zu überleben wünscht, als der Vorrat an niedriger Entropie es zulässt. … Der Wettlauf um die wirtschaftliche Entwicklung, welcher der modernen Zivilisation den Stempel aufdrückt, lässt keinen Zweifel an der Kurzsichtigkeit des Menschen aufkommen. … Der Mensch ist so beschaffen, dass er sich stets für das interessiert, was morgen geschehen wird, nicht erst in tausend Jahren. Doch gerade die langsam wirkenden Kräfte pflegen auch die schicksalsträchtigsten zu sein. …
Der zunehmende Druck auf den Vorrat an Bodenschätzen, der vom industriellen Entwicklungsfieber unserer Tage ausgeht, gepaart mit dem stets akuteren Problem, wie die Umweltverschmutzung eingedämmt werden kann (und das wieder unter Rückgriff auf jenen Vorrat), wird den Menschen unweigerlich dazu bringen, über die bessere Verwertung der Sonnenstrahlung nachzudenken, die die ergiebigere Quelle freier Energie ist.
aus: Was geschieht mit der Materie im Wirtschaftsprozess?, in: Rudolf Brun (Hrsg.), Sonne! – Eine Standortbestimmung für eine neue Energiepolitik, Frankfurt/M. 1979, S. 99-101, 106 und 110-112
Ivan Illich (1980)
„Konviviale Werkzeuge“
Der Traum, den Menschen durch die Macht der Bürokratie und die Kraft des Motors zu befreien, hat die Unterjochung der Produzenten und Süchtigkeit der Konsumenten bewirkt. Das Werkzeug hat sich vom Menschen gelöst und den Menschen in die Hand bekommen. … Die Hypothese der weltweiten Experimente war, den Sklaven durch den Motor zu ersetzen. Nun ist offenbar, dass das zu diesem Zweck eingesetzte Werkzeug den Menschen zu seinem Sklaven macht. … Die Lösung der Krise macht eine radikale „Umstülpung“ erforderlich. Nur durch eine Umkehrung der Grundstruktur, welche die Beziehung des Menschen zum Werkzeug regelt, können wir ein dem Menschen angemessenes Werkzeug schaffen. …
Das Dogma des beschleunigten Wachstums rechtfertigt die Heiligsprechung der industriellen Produktivität auf Kosten der Konvivialität. Die pervertierte, desintegrierte Gesellschaft unserer Tage mutet uns daher an wie ein Pesttheater, wie ein Tanz von Bedürfnisse produzierenden und Mangel schaffenden Lemuren. …
Die Gerechtigkeit der Verteilung der industriellen Produkte ist die notwendige, aber nicht zureichende Bedingung einer konvivialen Arbeit. Sie hat zur Voraussetzung die Einrichtung von Strukturen, welche die gerechte Verteilung der Energie möglich machen. Wir müssen erreichen, dass die Ausübung der Kreativität durch eine Person niemals anderen Zwangs-Arbeit, Zwangs-Wissen oder Zwangs-Konsum auferlegt. Im Zeitalter der wissenschaftlichen Technologie kann aber auch nur eine konviviale (lebensgerechte) Struktur des Werkzeugs die beiden Ziele Überleben und Gerechtigkeit vereinbaren. …
Es hat für mich keinen Sinn, eine detaillierte Fiktion der Zukunftsgesellschaft zu entwerfen. … Man mag einwenden, dass die Beschränkung des Apparats ein leeres Wort bleibt, so lange nicht eine neue ökonomische Theorie das operationelle Stadium erreicht hat, das die Wiederverteilung von Machtballungen in einer dezentralisierten Gesellschaft gewährleisten kann. Dies ist zwar ganz richtig, aber das ist nicht mein Thema. Ich lege eine Theorie über die Wirksamkeit der Distribution der Produktionsmittel vor, nicht eine Theorie, die direkten Bezug auf die Reorganisation der Finanzsphäre nähme.
aus: Selbstbegrenzung – Eine politische Kritik der Technik, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 30-31, 33, 38 und 44-45
Hans A. Pestalozzi (1983)
„Marktwirtschaft statt kapitalistisches Catch-as-catch-can“
Wir wissen doch alle, dass wir die Zerstörung unserer Dörfer und Städte nicht aufhalten können, so lange Grund und Boden der privaten Spekulation nicht entzogen sind. Sehen Sie eine Chance, das Privateigentum an Grund und Boden – wenigstens im nicht landwirtschaftlichen Bereich und wenigstens für juristische Personen – aufzuheben?
Wir wissen doch alle, dass wir die Geldmacht in unserer Gesellschaft nur dann in den Griff bekämen – unsere Gesellschaft also nur dann demokratiefähig machen könnten – , wenn wir wenigstens als ersten Schritt die finanziellen, die kapitalmäßigen Abhängigkeiten in unserem Land aufzeigen könnten. Sehen Sie eine Chance, das Bankgeheimnis aufzuheben, das Depotstimmrecht der Banken aufzuheben, die Kapitalbeteiligungen einem öffentlichen Nachweis zu unterstellen? …
Wir nennen den gesamtwirtschaftlichen Maßstab das Bruttosozialprodukt. … Merkt denn nicht allmählich jeder, dass immaterielles Wohlbefinden wichtiger ist als materieller Wohlstand im herkömmlichen Sinn? Sieht denn nicht bald jeder ein, dass durch die von der Wirtschaft erzwungene Schaffung ständig neuer materieller Bedürfnisse immer mehr immaterielle Werte zerstört werden? Wer glaubt denn noch daran, dass das menschliche Glück von der Steigerung des materiellen Wohlstandes abhänge? Wer – außer einigen Topmanagern und Politikern – glaubt denn noch daran, dass wir einfach weiter wachsen können? Wozu? … Ist es denn vernünftig, wenn wir unsere Arbeit derart aufteilen und derart spezialisieren, dass sie immer sinnloser wird, immer sinnentleerter, isolierter, der einzelne Mensch immer mehr ausgeliefert, immer mehr nur noch ausführend, keine Möglichkeit mehr zur Gestaltung hat? …
Was heißt denn Effizienz? Ist es effizient, wenn wir fünfmal mehr Energie in die Nahrungsmittelerzeugung stecken als wir herausholen? … Die Wirtschaft rast hinter irgendwelchen Phantomen her und merkt nicht, dass sie längst ziel- und orientierungslos sich im Kreise dreht. Und zwar muss sie das immer schneller und schneller tun, damit die herkömmlichen wirtschaftlichen Wertmaßstäbe noch stimmen. …
Welches sind die Motoren unserer wirtschaftlichen Maschinerie, wenn an die Stelle einer ziellosen eigendynamischen Expansionswirtschaft das auf Selbstgenügsamkeit und Zufriedenheit basierende Kreislaufprinzip treten würde? Wie müsste unsere Marktwirtschaft aussehen, wenn der Markt wirklicher Ordnungsfaktor wäre und sich vom kapitalistischen Catch-as-catch-can befreit hätte?
aus: Nach uns die Zukunft – Von der positiven Subversion, München 1983, S. 37, 44-46, 69 und 76
Dr. Hazel Henderson (1985)
Da die Ressourcen der Erde begrenzt und ihre Vorgänge an die thermodynamischen Gesetze der Physik gebunden sind, müssen die Grundvoraussetzungen für Volkswirtschaften, die innerhalb des übergeordneten Systems „Erde“ arbeiten, schließlich „steady-state“-Volkswirtschaften ( = Volkswirtschaften in quasi-stationärem Zustand) sein. … Eine „steady-state“-Volkswirtschaft kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Beschäftigung in der Produktion von energie- und ressourcenintensiven Gütern noch als Hauptverteilungsmechanismus funktioniert, sondern sie muss ihre Produktions- und Verteilungsstrategien auf ein ertragsgarantierendes System ausrichten, das auf regenerierbaren Ressourcen basiert. …
Wirtschaftswissenschaftler und Geschäftsleute, die geistig und finanziell in das Wachstumssyndrom investiert haben, können es nicht länger mit der Begründung verteidigen, es sei der einzige Weg, um das Los der Armen zu verbessern und die „Ressourcen“ für die Sanierung der Umwelt bereitzustellen. …
Das letzte Spiel, das diesem weltweit aus den Fugen geratenden System noch bleibt, wird gegenwärtig durch die Ökonomie und ihre hypnotische Konzentration auf das Geld erleichtert. … Das Geld, das von Wirtschaftspolitikern und Zentralbanken manipuliert, durch elektronische Überweisungen in einem multinationalen Banksystem beschleunigt und durch eine globale 24-Stunden-Anlagenverwaltung abstrahiert wird, hat kaum mehr etwas mit der Wirklichkeit zu tun. …
Die gesamte Wirtschaft, die ganze Betonlandschaft von Fabriken, Städten und Trabantenstädten treiben das System in der gegenwärtigen Richtung an – und die Ausbeutung der Kernenergie ist ein letzter barocker Schnörkel dieser alten, nicht länger aufrecht zu erhaltenden Richtung. …
Einige der interessantesten und bedeutendsten Manifestierungen der Gegenwirtschaften … umfassen die alternativen Absatzorganisationen, die Bewegungen für alternative Technologie, die genossenschaftliche Bewegung mit treuhänderisch verwaltetem Grund und Boden, Arbeiterbeteiligungs- und Selbstverwaltungsbewegungen sowie die weltweite Ökologiebewegung und die Frauenrechtsbewegung. …
Falls wir in den Industriestaaten den Veränderungen, die wir vornehmen müssen, nicht entschlossen ins Auge sehen können, so erwarten uns nur eine kurze Wegstrecke weiter andere Ressourcenkrisen, die uns noch härter treffen werden als der Energieengpass. … Wie viele Signale brauchen wir noch? … Es ist inzwischen klar geworden, dass sich das expansionistische, am Wachstum des Bruttosozialprodukts orientierte, ressourcenintensive Industriesystem überall auf diesem Planeten destabilisierend auswirkt und auf katastrophale Weise kriegsanfällig ist.
aus: Das Ende der Ökonomie – Die ersten Tage des nachindustriellen Zeitalters, München 1985, S. 57-58, 255, 296-297, 337-346, 397 und 428. München 1983, S. 165, 171 und 208
Dr. Frithjof Hager & Prof. Dr. Werner Schenkel (2000)
„Geldwirtschaft und Wachstum“
Wachsen braucht absterben. Schwellen braucht schrumpfen. Das ist unser Lebensrhythmus. … Die Wachstumsimpulse für die Wirtschaft werden herbeigesehnt. Das Bruttosozialprodukt muss wachsen. … Von Schrumpfen ist keine Rede. …
Die Formeln der Macht sind Wachstumsformeln. … Umso erstaunlicher ist, dass das mit dem Wachstum verbundene Schrumpfen viel weniger untersucht ist. Es gibt keine Theorie der Schrumpfung, obwohl Schrumpfung ein Synonym für praktische Ökologie sein könnte. Wo ist hier das Interesse der Wissenschaft geblieben? In einer Gesellschaft, die von ewiger Jugend träumt, die Lebewesen klont und den Tod mit allen Mitteln bekämpft und aus dem Bewusstsein verdrängt, liefern Geburt, Leben, Sterben und Tod keine Bilder für die Begrenzungen des Lebens mehr. …
Die Natur hat es so eingerichtet, dass Wachstum, d.h. Großwerden mit Schrumpfen, d.h. Kleinwerden verbunden ist. Sie gehören zusammen. Ohne Wachsen kein Schrumpfen und ohne Schrumpfen kein Wachsen. … Nur der Mensch vermochte es bisher, seine Grenzen ständig auszuweiten. …
Das moderne Wirtschaftsdenken beginnt mit Adam Smith und seinem Buch „Wohlstand der Nationen“ (1776). … Wer spart und Vermögen bildet, gilt als ein Wohltäter. … Karl Marx erkennt in seinem Buch „Das Kapital“ (1867), dass die Akkumulation von Kapital, das Wachstum der Wirtschaft und die Revolutionierung der Technologie eruptiv, zyklisch erfolgt und mit schweren Krisen und Depressionen verbunden ist. … John Maynard Keynes dreht in seinem Buch „General Theory of Employment, Interest and Money“ (1936) den Ansatz von Adam Smith um. Nicht der Sparer ist der Wohltäter, sondern der Investor. Wer spart, fragt keine Güter nach. Nur wer investiert, legt die Grundlage für zukünftigen Verbrauch und Ersparnisse. Die Nettoinvestitionen müssen jährlich wachsen, um das System zu stabilisieren. Der wachsenden gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazität muss eine wachsende gesamtwirtschaftliche Nachfrage folgen. Damit werden der Grenznutzen des Kapitals und der Geldzinssatz zu den Motoren neuen Wachstums. …
Das Wirtschaftswachstum befreit uns vom Nullsummenspiel und scheint es allen zu erlauben, einen Gewinn zu machen. … Ein uralter Menschheitstraum schien in Erfüllung zu gehen. … Ohne Wachstum würden die Verteilungskämpfe in voller Härte ausbrechen. …
Heute ist die wirtschaftliche Realität geprägt von der Geldwirtschaft. Geldwirtschaft heißt, aus Geld mehr Geld zu machen: Money1 – Commodities – Money2. Dabei muss M2 größer sein als M1, denn M2 enthält den für M1 zu zahlenden Zins und den Gewinn der Kapitaleigner. … Der M1 – C – M2 – Kreislauf funktioniert nur, wenn von Wirtschaftsperiode zu Wirtschaftsperiode zusätzliches Geld in den Kreislauf eingespeist wird. … Geldschöpfung ist Voraussetzung für Wirtschaftswachstum. …
Die wirtschaftliche Logik einer Geldwirtschaft ist auf Wachstum angelegt. Die Abhängigkeit des gegenwärtigen Vermögens einer Volkswirtschaft von zukünftigem Wachstum ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb sich heutige Geldwirtschaftssysteme in einem effektiven Wachstumszwang befinden. Bei Schrumpfungen bricht unser gesamtes, auf fiktiven zukünftigen Gewinnen beruhendes Vermögen zusammen.
aus: Schrumpfungen – Chancen für ein anderes Wachstum. Berlin 2000, S. 3-6
Prof. Dr. Walter Jorden (2000)
„Das Schrumpfen gehört zum Wachsen wie das Ausatmen zum Einatmen“
Unser gesamtes Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgelegt, vom Einzelbetrieb bis zur gesamten Volkswirtschaft. Bleibt das Wachstum stehen, so gilt das als Alarmsignal. Wird es negativ, dann droht nach der allgemeinen Meinung eine Katastrophe. In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Die Katastrophe kommt unweigerlich, wenn das Wachstum immer weitergeht. …
Dahinter steht das Grundproblem unserer Wirtschaft, das mit ihrer Grundlage verknüpft ist, mit dem Geld. Moses wie Mohammed haben seinerzeit ihren Gefolgsleuten untersagt, Zinsen zu nehmen. Vielleicht waren die beiden noch weitsichtiger, als wir bisher angenommen haben. …
Als Heilmittel gegen den „Schuldenberg“ wird vor allem „Wirtschaftswachstum“ verordnet. Das ist ein ebenso grundlegender Irrtum wie die Vorstellung, das „Geld arbeitet“. Geld arbeitet überhaupt nicht, denn es schafft keine Werte. … Wirkliche Werte entstehen nur dort, wo der Mensch etwas schafft. Gerade dieser Posten aber gehört zu den Größen, die schrumpfen: Die Zeit für die Arbeit wird immer kürzer, die Kosten dafür aber bleiben. Die „Rationalisierung“ reduziert deshalb den Anteil menschlicher Arbeit immer weiter, mit dem Effekt, dass die Arbeitslosigkeit sich auf stetigem Wachstumskurs befindet. Alle Anzeichen weisen darauf hin: der Wachstumskurs unserer Wirtschaft ist ein Katastrophenkurs. …
Die Blockade von Rückbewegungen (Schrumpfungen) wird mit Sicherheit zur Katastrophenreaktion führen. … Es gibt kein immerwährendes Wachstum, auch keinen Stillstand. Leben bedeutet rhythmische Bewegung zwischen zwei Polen, zwischen plus und minus, zwischen Wachsen und Abnehmen. Wer nur den einen Pol will, handelt so, als wenn er bei einer Batterie nur den Pluspol wünscht und den Minuspol ablehnt. … Das Schrumpfen gehört zum Wachsen wie das Ausatmen zum Einatmen. Schrumpfen ist wie Ausatmen. Wer nur einatmet, erstickt. Das heißt, dass auf keinem Gebiet des Lebens Abstriche und Rückgänge grundsätzlich tabu sein dürfen.
aus: Schrumpfen heißt Ausatmen – Analogien zum Wandel in Welt und Wirtschaft,
in: Frithjof Hager und Werner Schenkel (Hrsg.): Schrumpfungen – Chancen für ein anderes Wachstum, Berlin 2000, S. 142-145